Europa neu denken Eine Reihe für die Zukunft.

Michael Fischer (1945 – 2014)

Rechts- und Sozialphilosoph, Kulturwissenschafter, Programmbereich Arts & Festival Culture am Schwerpunkt Wissenschaft und Kunst, Universität Salzburg / Universität Mozarteum

60 Jahre lang wuchs Europa zusammen – von Portugal bis Polen. 60 Jahre lang war die Europäische Union Garant von Frieden und Wohlstand. Aber das Wir-Gefühl fehlt, das 27 Staaten in eine Schicksalsgemeinschaft verwandelt, wie die Euro-Krise zeigt. Hängt wirklich alles am Euro, den bloß 17 Mitgliedstaaten als Währung haben?
Bisher hat die Union all ihre Herausforderungen gemeistert, oft allein durch die Dichte ihres politischen und kulturellen Netzwerkes und aufgrund des gemeinsamen kulturellen Erbes. Aber wird dies auch morgen der Fall sein? Ich wundere mich oft, wie depressiv wir Europäer trotz dieser enormen Erfolgsgeschichte sind. Sind es wirklich bloß idealistische Assoziationen, an Europa als kulturelle Gemeinschaft zu glauben, weil es seine Existenz und Essenz mit den grundlegenden Menschenrechten rechtfertigt, mit Menschenwürde und der Ablehnung aller religiösen und politischen Fanatismen? Was wäre denn die leb- und realisierbare Alternative?
Die Frage, die sich viele Menschen stellen, ist doch, ob der vertraute Raum – Heimat, Ort, Region – diese hochemotionalen Sinnkonstrukte, wirklich von der Auflösung bedroht sind: Sei es nun kulturell, strukturell oder sozioökonomisch? Flughäfen, Einkaufszentren, Supermärkte, Freizeitparks, Hotelketten, Bahnhöfe, „Gated Communities“: Das Leben verlagert sich von Dörfern und Kleinstädten in die Einkaufszentren auf der Wiese, Kästen ohne Eigenschaften, „Nicht-Orte” (so der Pariser Anthropologe Marc Augé), die das Leben aus den gewachsenen Strukturen saugen: Abwanderung, Überalterung. Lemmingszüge durch die Wüsten der Arbeitslosigkeit. „Nicht-Orte“, die immer mehr Menschen zu vereinzelten, nicht bloß ökonomisch zu „asozialen” Benutzern machen: „sich selbst und einander fremd“, verbunden bloß „in der ängstlichen Erfahrung isolierter, leerer Existenz“. Orte, die uns Aufbrüche ohne Ankünfte zumuten, gleichsam Nietzsches Finale ins Nichts.
Auf die Forderung nach Kulturalität, Öffnung und universelle Verantwortung durch die Menschenrechte antworten zukunftsverunsicherte Menschen mit der Wiedererrichtung von Grenzen und Tabus. Die Rückbesinnung auf Heimat und Herkunft als geographischen Raum wird freilich dort für Europa politisch prekär, wo sie direkt oder indirekt auffordert, die Welt der „großen Politik” und der „großen Strukturen” zu verlassen. „Small is beautiful” statt „Europa als Einheit”. Dies birgt Gefahren für eine offene Zivilgesellschaft, die darauf angewiesen ist, dass ihre Mitglieder sich internationalisieren und globalisieren, sich der Weltgesellschaft öffnen. Also: Heimat sowohl als Präsentation kultureller Identität wie auch als Ort der Innovation und Aufklärung. Denn so gesehen hat Europa, wie bereits gesagt, „soviel Herkunft, dass seine Zukunft nicht zu verhindern ist“.
Freilich, die Geschichte des vergangenen Jahrhunderts hat dem Heimatbegriff seine Unschuld genommen. Durch die totale Enthumanisierung alles Menschlichen im Namen einer „besseren, rassenreinen Heimat“. Der katastrophalen Pervertierung durch Faschismus und Nationalsozialismus folgte nach 1945 die weitgehende Verdrängung. Aber stets haben namhafte Philosophen die Unverzichtbarkeit des Heimatbegriffs hervorgehoben. Ernst Bloch etwa notiert am Ende seines Werkes Das Prinzip Hoffnung: Bei jedem Menschen gibt es etwas, „das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat”. Darüber hinaus ist Heimat das Ganze der an die engere Umgebung angelagerten weiteren „Lebenskreise” und ihrer „Horizonte” (Pestalozzi): die Landschaft, das Land, der sprachliche Großraum, dann Europa, schließlich die „Welt”. Heimatbewusstsein setzt das Andere voraus und daher auch Toleranz. Automatisch ist es auch immer eine Form des Weltbewusstseins. Dadurch verliert der Heimatbegriff seine bloß geographische Komponente und seine existentielle Bedeutung wird deutlich. Heimat ist ein Komplex, den es für jeden Menschen aktiv zu schaffen gilt, eine Beziehung, die eine stetige, geistige Anstrengung voraussetzt.
Die hohe Bewertung der eigenen Heimat ist freilich nur unter der Bedingung sinnvoll und zulässig, dass man auch für die Heimat anderer eintritt. Das Recht auf Heimat, das als kategorischer Imperativ für alle Menschen gilt, hat elementar diesen Bedeutungskern. Die Sorge für die Heimat und das Heimatbewusstsein anderer, der nachfolgenden Generationen oder anderer Völker, ist die notwendige Konsequenz und Grenze des Bewusstseins der eigenen Heimat und der Sorge um sie. Daher ist es notwendig, gegen jede Art von regionalem Partikularismus aufzutreten (Johannes Hahn).
Die genannten Perspektiven sind kein verbohrter Traditionalismus, sondern ein evidentes Problem kraft der Einsicht, dass unter den Lebensbedingungen und Krisenerscheinungen unserer Gegenwartszivilisation Herkunftsprägungen und Traditionen ein knappes Gut sind, mit dem wir im Interesse unserer und künftiger Generationen behutsam umzugehen haben. Sie bieten ein wesentliches Zivilisationselement des 21. Jahrhunderts. Längstens liefern Landschafts-, Umwelt- und Naturschutz, Altstadterhaltung und Denkmalschutz positive Beispiele. Aber wir sind jetzt dabei auch unsere Einstellungen zu Sprache und Alltagskultur, Festlichkeiten und Theater zu verändern. Herkunft öffnet die Zukunft für das Neue, heißt es. Und in der Tat ist das Neue mit all seinen Herausforderungen die Voraussetzung dafür, dass Tradition fortgeschrieben werden kann. Der Esstisch war stets ein großes Symbol intakter Gemeinschaftlichkeit, ja die gemeinsame Tafel ist die Keimzelle der Zivilisation. Dort begannen die Erzählungen von Menschen über Menschen, über ihre Leistungen und Fehlschläge, ihre Kämpfe mit den Göttern und den Triumph der Liebe. Durch Erzählungen, durch „narrative Intelligenz“ lassen wir uns positiv herausfordern von der Verschiedenheit der Menschen und ihrer Räume, in denen sie leben, sowie von den Chancen, die sich daraus für unser Zusammenleben ergeben. Wirtschaftlich wichtig sind neben Kreativität, Innovation und Unternehmergeist auch die so genannten weichen Faktoren wie z.B. Lebensqualität, Wohlbefinden und kulturelle Vielfalt. Dies ist auch der Grund bei der Neukonzeption der EU-Regionalpolitik, Kultur in der Politik der lokalen und regionalen Entwicklung stärker und durchgängig zu berücksichtigen. Und das wollen wir mit der Reihe Europa NEU denken in den nächsten Jahren von vielen Seiten „beleuchten“.
Verantwortungsvolle Politik darf weder den Menschen in seiner Individualität ignorieren noch die ökonomischen und kulturellen Räume, in denen er sich bewegt. Ansonsten werden wir uns immer häufiger fragen müssen, wohin wir gehen, weil wir immer weniger wissen, wo und wer wir sind.

Michael Fischer (1945-2014)
Originaltext 2012
Textauszug zusammengestellt von Ilse Fischer im November 2014